“Grenzenlos” nr. 2 erschienen
Editorial
Wir gehen vom innigen Verlangen aus, eines Tages erleben zu wollen, wie die bestehende Gesellschaft durch eine Generalisierung des Aufstands über den Haufen geworfen wird, genährt von der fieberhaften Vorstellung einer Welt, in der es keine Autoritäten mehr gäbe, die unser Leben in Schranken weisen. Dieses innige Verlangen, diese fieberhafte Vorstellung kann manchmal auch etwas sein, das uns innerlich zerfrisst. Dann nämlich, wenn wir, erdrückt von der tristen Wirklichkeit, nicht wissen, wo und wie anzusetzen, um diesem Verlangen eine konkrete Perspektive zu geben, und nicht bloss eine Maske, mit der wir uns selbst etwas vormachen. Wenn wir nach und nach die Beliebigkeit des Aktivismus und die militanten Inszenierungen, das Hinterherrennen hinter Bürgerprotestbewegungen und die Verherrlichung des bewaffneten Kampfes, sowie alle anderen Reflexe, die die Form vor den Inhalt stellen, als eine solche Maske entlarvt haben, dann lassen sie in uns dieselbe Leere zurück, wie die Resignation. Die moralische Erpressung, alles mögliche gutzuheissen, was das einzige Kriterium erfüllt, in Bewegung zu sein, hält uns bloss davon ab, uns darüber klar zu werden, was wir den eigentlich wollen und wie wir dies, durch unsere eigene Intervention, zu erreichen gedenken. Dies herauszufinden, setzt das Verlangen voraus, eigene Ideen zu entwickeln, sie zu bekräftigen, zu vertiefen und ihnen Wert beizumessen, indem wir sie Hier und Jetzt in unserem Handeln beleben. Angesichts der Tatsache, dass sich Ideen, die eine anti-autoritäre Richtung einschlagen, an allen Ecken dieser Welt stossen, kann dieses Handeln nur auf eine Konfrontation hinauslaufen. Die Suche nach Kohärenz zwischen Ideen und Handeln bedingt also die Suche nach permanenter Konfrontation – mit sich selbst, mit seiner Beziehung zur Welt und mit dieser Welt als solche. Diese Tatsache mag unbequem erscheinen, zumindest solange der Hang zur Gewissheit und Gewohnheit über den Drang nach Experiment und Weiterentwicklung triumphiert. Zumindest solange wir die stetige in Frage Stellung von uns selbst als Verlust eines künstlich geschaffenen Halts, als Verlust einer Identität, anstatt als Stärkung unserer Individualität betrachten. Wenn wir aber offen sind für diese Konfrontation, dann können wir uns in die faszinierende Welt der Ideen stürzen, ohne Mystifizierung, ohne Verherrlichung, ohne Ideologisierung, und aus ihr nach und nach jene Steine picken, die schliesslich das Fundament unserer Entschlossenheit bilden, unserer ganz eigenen Perspektive für den sozialen Kampf zur Eroberung der Freiheit.
Mit dieser Zeitschrift wollen wir nichts anderes als einige dieser Steine ausbreiten, deren Vorkommen sich in Gebieten häuft, die reich an Kampfgeist sind und deren Struktur eine robuste Mischung von Ideen und Erfahrungen ist. Es liegt an jedem selbst, jene herauszunehmen, die ihm geeignet scheinen, um sich ein stabiles Fundament zu bauen.
weiterlesen auf: an die waisen des existierenden
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